Juli 24, 2019
Was die Wissenschaft wirklich übers Entrümpeln sagt – von Donald Rattner
Organisieren und Entrümpeln sind gerade der letzte Schrei. Das verdanken wir hauptsächlich der aktuellen Königin des Aufräumens, Marie Kondo, deren KonMari-Methode Grundlage zahlreicher Bücher und einer Netflix-Show ist und ein ganz neues Geschäftsmodell ins Leben gerufen hat, in dem Menschen dabei geholfen wird, die Kontrolle über ihren physischen Besitz zu behalten.
Als Architekt, der an Raumpsychologie und der Rolle, die materielle Objekte in unserem Leben spielen, interessiert ist, habe ich lange das Gefühl gehabt, dass eine Reihe von Frau Kondos Ideen eine wissenschaftliche Grundlage vermissen lassen und daher anfällig dafür sind, als spekulativ und anekdotenhaft abgestempelt zu werden anstatt als faktisch und tiefgreifend erkannt zu werden. Meine Sorgen wurden nur größer, als ich in ihrem ersten Bestseller-Handbuch „Die lebensverändernde Magie des Aufräumens“ nach dem Wort „Wissenschaft“ suchte und es kein einziges Mal vorfand. Meine Bedenken vertieften sich weiter, als ich feststellte, dass der verwandte Begriff „wissenschaftlich“ nur ein Mal vorkam, in einem Abschnitt, in dem die Autorin bekennt, keine wissenschaftliche Grundlage für ihre Theorie, dass Menschen mental und physisch von einem aufgeräumteren Leben profitieren, zu haben.
In dieser Hinsicht ist Frau Kondo falsch informiert. Tatsächlich gibt es eine Reihe an Beweisen, die darauf hindeuten, dass ein aufgeräumtes Zuhause genau das vermag.
Die Macht der Dinge
Der vielleicht beste Weg, den Wert eines in Ordnung gehaltenen Umfelds schätzen zu wissen, ist, zu erfahren, was mit einem passieren kann, wenn man es nicht in Ordnung hält.
Nehmen wir zum Beispiel eine 2010 im Fachblatt Personality and Social Psychology Bulletin veröffentlichte Studie. Sie fand heraus, dass Teilnehmer, die ihr Zuhause als überladen beschrieben, einen größeren Hang zu Depressionen und Müdigkeit hatten, verminderte Bewältigungskompetenzen aufwiesen und mehr Probleme mit dem Übergang von der Arbeit nach Hause hatten, als Teilnehmer, die ihr Zuhause positiver sahen.
Was ist die Verbindung zwischen einer verwahrlosten physischen Umgebung und einem Mangel an mentalem Wohlbefinden? Biologie. Forschern zufolge wies die Gruppe mit einer unordentlichen Umgebung ein höheres Niveau des Stresshormons Cortisol auf, eine Substanz, die durch die Adrenalindrüsen in den Blutkreislauf gelangt. Normalerweise schüttet der Körper Cortisol aus, wenn er eine externe Bedrohung wahrnimmt, um unsere Konzentration und unsere analytischen Denkfähigkeiten und somit unsere Kapazität, uns gegen drohendes Unheil zu verteidigen, zu erhöhen. Sobald die Gefahr vorüber ist, kehrt unser Körper zum Normalniveau an Cortisol zurück. Wenn man von seinem unordentlichen Umfeld gestresst ist, ist das Problem, dass die Unordnung die lästige Angewohnheit hat, genau da zu bleiben, wo sie ist, was im Gegenzug zu einer ständigen Cortisol-Produktion und jenen Erkrankungen führt, die die Teilnehmer der Studie im Jahr 2010 aufwiesen.
Und dies sind nur einige der Krankheiten, die einem Überangebot dieses Hormons zuzuschreiben sind. Weitere beinhalten Kopfschmerzen, Reizbarkeit, Darmprobleme, hoher Blutdruck, geringe Libido, schlechter Schlaf, Herzkrankheiten, ein schlechtes Immunsystem und Schwierigkeiten, sich von körperlicher Aktivität zu erholen.
Doch Moment, da ist noch mehr, nämlich mehr Gewicht. Richtig gelesen, eine weitere potenzielle Folge von durch Unordnung hervorgerufenen Stress ist Gewichtszunahme. Laut einer Quelle haben Menschen, die in unaufgeräumten Wohnungen das als Kontrollüberzeugungoder Häusern leben ein sage und schreibe 77 Prozent höheres Risiko übergewichtig zu sein, als Menschen, die in einem gut gepflegten Zuhause wohnen. Weniger überraschend ist, dass besonders mit Lebensmitteln überfüllte Küchen schlecht sind, um eine schlanke Taille zu behalten. Eine 2017 im Fachblatt Environment and Behavior veröffentlichte Studie fand heraus, dass Teilnehmer, die in chaotischen Essensumgebungen lebten, signifikant ihren Konsum von kalorienreichen Snacks (also Junk-Food) hochfuhren, was schon bald zu einem sichtbaren Effekt führte.
Andere ungesunde Folgen von Unordnung entstehen indirekt. Die Luftqualität leidet zum Beispiel oft in unordentlichen Räumen, da die Fülle an Objekten mehr Oberfläche für Staub bietet. Diese zusätzliche Staubschicht steigert die Wahrscheinlichkeit von Atemwegsproblemen für die Bewohner und kann außerdem die Menge an natürlichem Licht in einem Raum verringern, da besagte Oberflächen weniger Licht reflektieren. Haushalte mit Tieren und in städtischen Umgebungen sind besonders anfällig für diesen Lichtverlust und dreckige Luft aufgrund von zu viel herumliegenden Sachen.
Und als ob all das noch nicht genug wäre, um dich sofort in einen Ordnungsfreak zu verwandeln, kann Unordnung auch die Fähigkeit, sich auf die Erfüllung von Aufgaben zu konzentrieren, beeinträchtigen. Diese Einsicht stammt aus einem 2011 an der Princeton University entstandenen Paper, in dem Forscher herausfanden, dass unser Sinnesapparat leicht überwältigt wird, wenn er zu viele Dinge gleichzeitig ansehen muss, was es wiederum schwerer macht, genau die Objekte zu identifizieren, die für eine bestimmte Aufgabe vonnöten sind. Mehr Sachen erhöhen ebenfalls die Wahrscheinlichkeit, von seiner Aufgabe abgelenkt zu werden, da mit jedem Blick in den Raum etwas Neues ins Auge fällt.
Unvollendetsein und Kontrolle
Die Unfähigkeit von Menschen, sich in einem unaufgeräumten Umfeld zu konzentrieren, weist auf einen der Gründe hin, warum Gerümpel den Effekt auf uns hat, den es hat: Ein Raum voller Unordnung vermittelt ein Gefühl des Unvollendetseins. Manchmal kommt dieses Gefühl von Projekten oder Aufgaben, die tatsächlich unvollendet sind und uns als ungeordnete Papierstapel oder Überbleibsel angefangener Haushaltspflichten entgegen starren. Andere Male kommt es vielleicht von aufgeschobenen Entscheidungen wie, ob man eine Habseligkeit behalten will und falls ja, wo sie aufbewahrt werden soll. Angesichts des Unwohlseins, dass die meisten Menschen verspüren, wenn sie mit einer Fülle an ungelösten Problemen konfrontiert sind, sollte es kaum überraschen, dass die unglücklichen Teilnehmer der Studie aus 2010, die ich am Anfang dieses Artikels angesprochen habe, wiederholt das Wort „unfertig“ benutzten, um ihre unordentlichen Wohnräume zu beschreiben.
Eine zweite mögliche Erklärung für den negativen Einfluss, den Unordnung hat, beinhaltet ein psychologisches Konstrukt, das als Kontrollüberzeugung bekannt ist. Kurz gesagt besagt dieses Konzept, dass man Menschen in zwei Gruppen aufteilen kann: jene, die glauben, die Kontrolle über ihr Leben zu besitzen und jene, die glauben, dass hauptsächlich externe Kräfte ihr Schicksal bestimmen. Wie erwartet, fallen Menschen, die ein ordentliches Umfeld für sich schaffen in die erste Kategorie, wohingegen diejenigen, die in weniger ordentlichen Räumen wohnen, oft das Gefühl haben, dass ihre Habseligkeiten gegen ihren Wunsch und ohne ihr Zutun die Kontrolle über sie übernommen haben. Wie zu erwarten fand auch eine richtungsweisende britische Studie, dass Menschen mit internaler Kontrolle meist erfolgreicher, gesünder, besser ausgebildet und weniger ängstlich sind, als solche mit externaler Kontrolle.
Die Ausnahme der Regel
Es gibt Ausnahmen zum negativen Einfluss von unordentlichen Umgebungen. Eine von ihnen hat seit vielen Jahren meine Aufmerksamkeit: kreative Räume. Während ich ein Buch zum Thema schrieb, fiel mir ein Forschungsergebnis in die Hände, das darauf hindeutete, dass ein unaufgeräumtes Umfeld tatsächlich die Ideenentstehung fördern kann. Eine Beobachtung, die perfekt mit der Annahme zusammenpasst, dass kreatives Denken in den frühesten Stadien von Natur aus ein „unordentlicher“ und überfüllter Prozess ist, das heißt nicht linear, von Quantität getrieben und voller unvorhersehbarer Überraschungen.
Das mal dahingestellt waren und sind viele berühmte kreative Köpfe dafür bekannt, Ordnung an ihrem Arbeitsplatz zu brauchen: Unter ihnen sind Eleanor Roosevelt, Jane Austen, Yves St. Laurent, Craig Newmark (der Gründer von Craigslist), Anna Wintour und natürlich Marie Kondo. Selbst für jene, die während des Kreativprozesses gerne in Unordnung versinken, Mark Twain zum Beispiel, sollte festgehalten werden, dass sich ihre Unordnung oft nur auf ihren unmittelbaren Arbeitsplatz begrenzte, bei Twain zum Beispiel auf seinen Schreibtisch.
Für den Rest von uns Nicht-Genies ist die Beweislage klar: Wir sind vermutlich glücklicher, gesünder und erfüllter, wenn alles an seinem Platz ist.